Planerische Nadelstiche für eine humane Stadt

Jaime Lerners Buch ¨ Urban Acupuncture¨

Als Architekt, Stadtplaner und langjähriger Bürgermeister hat Jaime Lerner federführend dazu beigetragen die brasilianische Millionenstadt Curitiba zu einem öko-sozialen Vorzeigeprojekt zu machen. Seinen Ansatz mit kleinen Interventionen im städtischen ¨Gewebe¨ viel zu bewirken, nennt er ¨Urbane Akkupunktur¨;


¨Gute urbane Akkupunktur¨, meint er, ¨lockt Menschen hinaus auf die Straßen und schafft Treffpunkte. In erster Linie hilft sie mit Städte zu Katalysatoren für Interaktionen von Menschen zu machen.¨
In einem nun vorliegenden Buch mit dem programmatischen Titel ¨Urban Acupuncture¨ beschreibt er diesen Ansatz anekdotenhaft und poetisch anhand vieler kleiner Beispiele aus Städten rund um den Globus – freilich ohne dabei allzu konkret zu werden.
Wichtige Begriffe, um die Lerners Überlegungen kreisen, sind dabei Selbstwertschätzung, Liebe zur eigenen Stadt und das, was er als ¨ Urban Kindness¨ beschreibt: Eine Freundlichkeit sich selbst und den Mit(stadt)bürgerInnen gegenüber; BewohnerInnen, die regelmäßig wechselnde Kunstausstellungen lokaler KünstlerInnen im Aufzug eines Wohnhochhauses organisieren; Reinigungstrupps von großflächigen Glasfassaden, die ihre Arbeitskörbe mit Blumen dekorieren und so ihrer Umwelt einen prächtigen, sich ständig fortbewegenden Farbklecks im Großstadtgrau schenken; ein Zahnarzt, der täglich zu Dienstschluss sein Ordinationsfenster öffnet und ein Trompetensolo in den Abend schmettert; eine kleine, eigentlich nichtssagende Statue in einem Wohngebiet, die von den BewohnerInnen der Nachbarschaft liebevoll gepflegt, immer mal wieder anders gestaltet und jedenfalls gegen jede Art von Vandalenakten wohlweislich in Schutz genommen wird; Das ist die Art von freigiebiger Freundlichkeit, mit der auch Einzelne, auch mit sehr kleinen ¨Nadelstichen¨, viel im Dienste ihrer Stadt bewirken können.

Denn sie helfen damit sich und ihren MitbürgerInnen die eigene Stadt zu schätzen, sich hier wohl zu fühlen – und am Ende eben auch, dieser Stadt samt ihren BewohnerInnen etwas zurückzugeben, an dem viele Freude finden.

Sozusagen als ¨ Aufwärmübung¨ empfiehlt Lerner doch mal die eigne Stadt – bzw. das Bild, das man von ihr im Kopf hat – in Form einer Karte aufzuzeichnen. Ganz selbstverständlich tauchen in einer solchen Karte jene Punkte im Stadtgefüge auf, die uns wichtig sind, an denen wir uns oft und/ oder gerne aufhalten – aber eben auch jene Bereiche, die wir eventuell meiden, weil sie uns Unwohlsein verursachen. Oder uns völlig egal sind. Oft ideale Orte um kleine ¨Nadelstiche¨ der urbanen Intervention zu setzen.

Viel schreibt Lerner von den Geräuschen, Gerüchen, dem Licht und Farben von Städten und von Augenblicken der Stille im urbanen Gewühl, von der Wirkung von Wasser und den Schatten von vielen großen Bäumen.

Als gestandener Stadtplaner und Realpolitiker geht er mit einem urbanen ¨Gift¨ sehr rigoros ins Gericht, dem Individualverkehr. Der sei wie eine Schwiegermutter, schreibt Lerner: man müsse ihn respektieren, aber man dürfe nicht zulassen, dass er sein Leben diktiere. Urbaner Flächenverbrauch, Luftschadstoffe, Lärmbelastung, soziale Ungleichheit – Lerners lapidare Lösung für Autos: ¨ use them less.¨ Seiner eigenen Stadt Curitiba hat er gegen dieses – wie er es nennt: – urbane Cholesterin (und damit meint er ganz dezidiert auch den mit der Dominanz des Individualverkehrs vielfach verbundene Unwillen sich zu bewegen, ein paar Schritte zu Fuß zu gehen, Leute zu treffen, …) eines der seinerzeit modernsten Massentransportmittel verordnet: ein System aus Schnellbussen, die auf eigenen Fahrstreifen stau- und kreuzungsfrei unterwegs sind und dank extralanger Mehrfachgelenkgarnituren eine Fahrgastkapazität aufweisen, die nahe an die von viel teureren Untergrundbahnen herankommt.
Dass das nur eingebettet in ein komplexes System mit festen Tarifstrukturen (samt Sozialtarifen) und hierarchischen Zubringerlinien funktioniert, erfährt man im Buch allerdings nur am Rande.
Jaime Lerner träumt dagegen schon von ¨ einem BMW für jeden¨: Bus, Metro, Walking, wenn sinnvoll aufeinander abgestimmt (und z.B. mit einem inkludierten Taxi- und Carsharing- system ) kann in Zukunft den Besitz eigener Autos im städtischen Raum weitestgehend überflüssig machen.
Überhaupt ist Lerner ein großer Freund des Mixes; er mag nicht der erste sein, der die Funktionentrennung im städtischen Gewebe als Grundproblem erkennt – allen voran die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz -, aber er verkehrt die Problemanalyse kreativ in eine Anleitung zur Heilung: In allzu kommerziell geprägten Räumen möge man eine Dosis Wohnbau applizieren, in sterilen Wohngebieten dagegen den einen oder anderen 24h-Shop, der als lokaler Treffpunkt dienen kann, und wenn in einer Stadtregion das gemeinschaftliche Leben zu ersterben drohe, dann wirke eine kräftige temporäre Nutzung – ein improvisiertes Café, eine Bühne, ein offener Markt – wahre Wunder.

Man mag einigen von Lerners Vorschlägen skeptisch gegenüber stehen – etwa mag bezweifelt werden, dass insbesondere europäische Städte noch mehr Licht zu Belebung brauchen (dies angesichts einer anhaltenden Debatte über Lichtverschmutzung …) und man kann auch in Frage stellen, ob es Ziel jeder Stadt sein muss, rund um die Uhr lebendig zu sein. Stellt man allerdings in Rechnung, dass Lerners Ideen aus einem lateinamerikanischen Kontext stammen, relativiert sich auch in dieser Hinsicht einiges. Insgesamt aber kann man ihm nur zustimmen, wenn er postuliert: ¨the more you blend incomes, ages and activities, the more human the city becomes.¨

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